Herbert A. Meyer
artop GmbH, Institut an der Humboldt-Universität zu Berlin
Martin Christof Kindsmüller
Institut für Multimediale und Interaktive Systeme, Universität zu Lübeck
Kommt intuitive Benutzbarkeit als übergeordnetes Usability-Ziel infrage? Wenn ja, unter welchen Bedingungen? Wie wird geprüft, ob das Ziel erreicht wurde? Nach einer Klärung des Konzepts wird die Frage bearbeitet, inwiefern sich intuitive Benutzbarkeit mit dem Usability-Qualitätsmodell der ISO 9241-Serie vereinbaren lässt. Abschließend werden Implikationen der vorgestellten überlegungen für den beruflichen Alltag von Usability-Experten diskutiert und offene Praxisprobleme angesprochen.
KeywordsInteraktion, Interface, intuitiv, Walk-up-and-use, ISO 9241, ISO 20282
Die Analyse der aktuellen Einträge in den Datenbanken des Projekts " Deutscher Wortschatz" (1) zeigt, dass das Adjektiv "intuitiv" überzufällig häufig im Zusammenhang mit Begriffen aus dem Sachgebiet Technik verwendet wird. So finden sich signifikante Kookkurrenzen nicht nur zu verschiedenen Wortformen von "Bedienung" (u.a. "bedienbar", "bedienen", "bedienende"), sondern ebenso zu Wörtern wie "Benutzeroberfläche", "Handhabung" und "Icons".
Der Eindruck, dass das Wort "intuitiv" heute bevorzugt im Sachgebiet Technik verwendet wird, verstärkt sich durch Untersuchungsergebnisse beim angloamerikanischen Sprachgebrauch. Beim "Internationalen Wortschatzportal"(2) treten gemeinsam mit dem Ausgangsbegriff "intuitive" zahlreiche technische Begriffe auf. Signifikante Kookkurrenzen existieren beispielsweise für die Wörter "interface", "user", "easy", "use", "graphical", "menu", "Windows", "features", "program", "tools", "pull-down", "commandos", "icons", "mouse", "documentation", "context-sensitive", "Macintosh", "user-friendly", "easy-to-use", "software", "functions", "on-line", "GUI", "metaphor", "design", "graphics", "dialog", "application", "Microsoft" und "desktop". Die nach der Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens mit "intuitive" aufgereihten Wörter sind bis auf wenige Ausnahmen, und dies muss uns zu denken geben, bedeutsame Schlüsselwörter aus der Forschung und Entwicklung zur Verbindung von Mensch und Computer.
Aufschlussreich ist die statistische Analyse des Sprachgebrauchs mittels Google-Suche. Im Sommer 2007 wurde bei den Ergebnisausgaben erstmalig nach der größten Trefferanzahl von Wortgruppen gesucht, in denen die Adjektive "intuitiv" bzw. "intuitive" enthalten sind. Im deutschsprachigen Web gab es die meisten Treffer für die Wortgruppe "intuitive Bedienung" (ca. 280.000 Seiten), im englischsprachigen Web entfielen die meisten Treffer auf die beiden Wortgruppen "intuitive interface" und "intuitive user interface" (jeweils mehr als 1.000.000 Treffer). 18 Monate später hat sich der Gebrauch der Wortgruppen nahezu verdoppelt. Im Frühjahr 2009 finden sich ca. 480.000 Seiten für "intuitive Bedienung" und mehr als 2.000.000 Seiten für "intuitive interface".
Neben der ankedotischen These, dass Moore's Law anscheinend in die Sprachverwendung Einzug gehalten hat, offenbart das Ergebnis der Google-Suche eine theoretisch bedeutsame Differenz beim deutschen und angloamerikanischen Sprachgebrauch. Beim häufigsten englischen Wortpaar wird das Adjektiv "intuitive" als Eigenschaft des Interface und damit als Produktmerkmal betrachtet. Im Deutschen ist "intuitiv" eine Zuschreibung für den Umgang mit dem Interface bzw. Produkt, nämlich der Bedienung.
Jared Spool geht in seinem Essay "What Makes a Design Seem 'Intuitive'?" auf den angloamerikanischen Sprachgebrauch ein und stellt fest, dass das Interface eines Softwareprodukts natürlich nichts intuitiv erfassen könne. Wie sollte es auch? Wenn jemand nach einem "intuitiven" Interface verlange, verlange er nach einem Interface, dass er selbst als intuitiv empfinde ("People intuit, not interfaces", Spool 2005)(3).
Spool verlagert den Intuitionsbegriff von der Technik auf die Seite des Menschen. Beim deutschen Wortpaar "intuitive Bedienung" hingegen bezeichnet das Adjektiv weder eine Eigenschaft des Menschen noch eine Eigenschaft der Technik. "Intuitiv" steht hier für eine besondere Form des Zusammenspiels von Mensch und Technik - und charakterisiert somit eine Beziehung zwischen dem User und dem System.
Das Wort "intuitiv" kommt bei verschiedenen Gelegenheiten zur Sprache, wenn das Zusammenspiel von Mensch und Technik beschrieben wird. Wir hören es von Herstellern interaktiver Systeme als Eigenschaftswort zur Charakterisierung von Interfaces, häufig mit einem werbenden Hintergrund. Wir hören es auch von Benutzern während oder nach der Benutzung interaktiver Systeme, häufig gepaart mit der Enttäuschung, dass eine "intuitive" Benutzbarkeit nicht gegeben sei. Die Frage, ob User "intuitive" Interfaces wünschen, weil sie ihnen von der Werbung versprochen werden oder ob es umgekehrt ist, ist schwer zu entscheiden und vermutlich auch irrelevant(4). Wichtiger ist die Frage, wie Usability-Experten mit dem allgegenwärtigen Wunsch nach "intuitiv" benutzbaren Interfaces umgehen.
Auf der einen Seite sind Wünsche von Seiten der User selbstverständlich ernst zu nehmen, auf der anderen Seite kann der Sprachgebrauch von Werbetreibenden nicht unkritisch übernommen werden. Das Einfließen des Wortes "intuitiv" in den öffentlichen Diskurs einer noch jungen Berufsgruppe muss kritisch betrachtet werden. Insbesondere dann, wenn das Wort "intuitiv" nicht hinreichend expliziert wird, sondern als interpretativ offenes Zauberwort eingesetzt wird.
Ob ein User-System-Interface(5) als "intuitiv" (und damit positiv) oder umgekehrt als "nicht intuitiv" (und damit negativ) bewertet wird, kann nicht von dem Interface selbst abhängen, sondern davon, ob bei ihm eine Passung zwischen den Gewohnheiten der User und den Funktionnen Systems hergestellt wird (vgl. Hurtienne et al. 2006). Wenn eine solche Passung zwischen der Verhaltensspezifikation der User und der Verhaltensspezifiktion des Systems erzeugt wurde, spricht nichts dagegen, sie mit bestimmten Begriffen auszuzeichnen.
Eine Auszeichnung mit dem Prädikat "intuitiv" ist seit den von Jef Raskin geäußerten Einwänden zumindest kritisch zu betrachten (Raskin 1994). Raskin weist nachdrücklich darauf hin, dass das Konzept eines "intuitiven" User-System-Interfaces bei näherer Hinsicht nicht haltbar ist. Das Konzept beruhe auf der Vorannahme, dass ohne vorangegangene Lernprozesse, ohne Vorerfahrung bzw. ohne jede überlegung mit einem Interface umgegangen werden kann - und sei damit ein Wunschdenken. Er schlägt vor, bei der Beurteilung von Interfaces auf den Begriff "intuitiv" zu verzichten und stattdessen von "vertrauten", "bekannten" oder "gewohnten" Interfaces zu sprechen ("Intuitive equals familiar", Raskin 1994).
Ein Gefühl der "Vertrautheit" kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Nach Raskin wird der Umgang mit Interfaces insbesondere dann als "intuitiv" erlebt bzw. beschrieben, wenn die größten Lernerfolge in der Anfangsphase liegen. Nämlich genau dann, wenn das Subjekt über früher erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt, die umstandslos angewendet werden können. Ist der Verlauf des Lernprozesses beim Umgang mit einem Interface durch geringe Erfolge in der Anfangsphase und schnellere Erfolge im weiteren Verlauf geprägt, ist also zum Beispiel ein besonderes Verständnis für einen komplizierten Zusammenhang erforderlich, wird das Prädikat "intuitiv" im heutigen Sprachgebrauch eher nicht verwendet. Das Prädikat scheint für "einfache" Anwendungen reserviert zu sein, mit denen auch Anfänger bereits erfolgreich umgehen können.
Dass gerade die Einfachheit der Handhabung von User-System-Interfaces mit dem Prädikat "intuitiv" gekennzeichnet wird, ist nicht selbstverständlich. In dem mittlerweile als Klassiker geltenden Buch von Jens Rasmussen zur Interaktion von Mensch und Technik (Rasmussen 1986) findet sich beispielsweise eine gänzlich andere Verwendung des Prädikats. In Anlehnung an das Fünf-Stufen-Modell der Gebrüder Dreyfus zum Erwerb von Fertigkeiten werden "intuitive" Handlungen als Kennzeichen der höchsten Stufe von Expertentum betrachtet (Dreyfus & Dreyfus 1980; Dreyfus 1981).
Anfänger können lediglich mit Situationsmerkmalen umgehen, die unabhängig vom Nutzungskontext erkannt werden, d.h. immer in gleicher Weise auftreten und auch immer gleich zu behandeln sind. Auf dem Weg zum Expertentum bieten dann in der nächsten Stufe feste Regeln eine Orientierung, bevor sie im fortgeschrittenen Stadium durch situativ gültige Regeln ersetzt werden. Ist der Einbezug der Situationen ohne Aufwand, d.h. ohne eine zeitaufwändige kognitive Analyse möglich, gelingt nach einer längeren Phase der Einübung der qualitative Sprung zum Expertentum und damit zu einem "intuitiven" Handeln und Entscheiden (Experten lösen keine Probleme, schlicht deshalb weil ihnen keine begegnen.). Auf diesen "intuitiven" Anteil der menschlichen Intelligenz berufen sich die Gebrüder Dreyfus wenn sie das Wesen der menschlichen Expertise in Abgrenzung zu "Expertise" in Expertensystemen beschreiben (Dreyfus & Dreyfus 1986). Die auch "Bauchentscheidung" (Gigerenzer 2007) genannte menschliche Fähigkeit scheint mühelos abzulaufen, allerdings gründet sie, soviel ist aus der psychologischen Forschung bekannt, auf langwierigen Lernprozessen, die in der Vergangenheit mühevoll abgeleistet wurden - und unter Umständen inzwischen in Vergessenheit geraten sind.
Wenn heute von einer "intuitiven HCI" (Bullinger et al. 2002) oder einer "intuitiven Usability"(6)(Deutsche Telekom Laboratories ) die Rede ist, scheint es nicht um den Umgang mit User-System-Interfaces zu gehen, die ein Expertentum nach den Dreyfus-Brüdern erfordern bzw. begünstigen. Hier sind eher Interfaces gemeint, mit denen Anfänger ohne Trainingsmaßnahmen "loslegen" können.
Das heute verbreitete Verständnis einer "intuitiven" Benutzbarkeit scheint sich auf ein Verhalten zu beziehen, bei dem mit einem Interface umgegangen wird, dessen Bestandteile unabhängig vom Nutzungskontext interpretiert werden können bzw. bei dem feste Regeln angewendet werden können. Eine Einarbeitung sollte hier nicht notwendig sein, da vorhandene Fähigkeiten und Fertigkeiten für eine effektive Benutzung des Interface eingesetzt werden können.
Es stellt sich jetzt die Frage, auf welchen Aspekt der Mensch-Computer-Interaktion sich der Wunsch nach "intuitiver" Benutzbarkeit bezieht. Ist es das eigentliche "Sachproblem" (Streitz 1988), also die Aufgabe, die über das Interface mit dem System bearbeitet werden soll? Oder ist es das "Interaktionsproblem" (Streitz 1988), das von dem Sachproblem ablenkt, weil zunächst gelernt werden muss, wie das Interface korrekt zu bedienen ist, um beispielweise keine Fehlermeldungen mehr zu erhalten? Wird der Informationsaustausch zwischen Mensch und Computer als "interaktives Problemlösen" modelliert, wird davon ausgegangen, dass zunächst das Interaktionsproblem (das "Wie") gelöst werden muss, um zum "Was" der eigentlichen Fragestellung überzugehen.
Eine Beschränkung der Interfacegestaltung auf konventionelle Lösungen würde auf der einen Seite das zur Sachproblembearbeitung erforderliche Interaktionswissen minimieren, allerdings auf der anderen Seite auch den Bereich der zu bearbeitenden Sachprobleme einschränken. Neue (potentiell effizientere) Möglichkeiten der Sachproblembearbeitung ziehen in aller Regel neue Interaktionsprobleme nach sich. Interaktions- und Sachproblem können kaum voneinander getrennt betrachtet werden. Wir nennen daher die erste Hürde, die zum erfolgreichen Umgang mit dem Interface eines interaktiven Systems genommen werden muss, nicht Interaktionsproblem, sondern "Einarbeitungsproblem". Der Aufwand zur überwindung des Problems verlangt sowohl Sach- als auch Interaktionswissen.
Bei den historisch frühen Interfaces, die ausschließlich auf formalen Kommandosprachen beruhten, ist das Einarbeitungsproblem deutlich vorhanden. Die Interfaces solcher Systeme zeichnen sich geradezu dadurch aus, dass das Einarbeitungsproblem anerkannt und gelöst wird, da sonst eine produktive Benutzung unmöglich ist. Das Aufkommen grafischer User-Interfaces, die durch Konzepte wie WIMP, WYSIWYG, Direktmanipulation und Desktop-Metapher geprägt sind, wird durch einen bedeutsamen Shift begleitet. Eingaben erfolgen nicht mehr durch Erinnern oder Wissen der einzugebenden Zeichenketten, sie müssen also nicht mehr im Vorfeld erlernt werden, sondern werden durch Hinweise stimuliert, die im Wahrnehmungsfeld in Erscheinung treten. Eingaben erfolgen in psychologischer Hinsicht nicht mehr durch freies Erinnern ("free recall"), sondern durch induziertes Erinnern ("cued recall") oder Wiedererkennen ("recognition"). Im Interaktionszyklus "triggern" "Cues" die Eingabe für den nächsten Interaktionsschritt.
Das erforderliche Interaktionswissen hat sich durch grafische User-System-Interfaces zwangsläufig verändert. Anfängern wird es allein durch das Erkennen und Zuordnen von Interfacemerkmalen möglich, Aktionen auszulösen. Wenn die Aktionen auch ohne explizite Einarbeitung Sinn machen sollen, wenn ihre "intuitive" Benutzbarkeit gegeben sein soll, müssen die Interfacemerkmale kontextfrei erkannt und nach festen Regeln benutzt werden können. Sie müssen somit mit bekannten Nutzungskonventionen vereinbar sein. So kann das Einarbeitungsproblem durch den Rückgriff auf Gewohntes mehr oder weniger mühelos überwunden werden.
Dass das Wort "intuitiv" bei den Empfehlungen für die Konzeption und Auswahl von Software der internationalen Normenserie ISO 9241 (DIN e.V. 2003) nur im Teil 14 in dem kleinen Abschnitt "Auswahl durch Hinzeigen" vorkommt und dieses Vorkommen an der betreffenden Stelle redundant erscheint, ist kein Zufall. Da die Empfehlungen für die Arbeitswelt ausgelegt sind, sind dort Einarbeitsaufwände in User-System-Interfaces nicht zentral. Die einzige Ausnahme stellen interaktive Systeme dar, die für eine Benutzung ohne Einübung vorgesehen sind ("appropriate for walk up and use"; ISO 9241-11, Anhang B).
Zur empirischen Überprüfung der Usability von Walk-up-and-use-Interfaces werden Vorgehensweisen für alle drei Usability-Maße vorgeschlagen (Effektivität, Effizienz und Zufriedenstellung). Es gibt, wie bei der ISO 9241-Serie üblich, keine allgemeine Regel, wie die genannten Maße im Einzelfall ausgewählt, kombiniert und operationalisiert werden sollten. Die relative Bedeutung der einzelnen Usability-Komponenten hängt sowohl vom Nutzungskontext als auch vom Zweck ab, für den die Usability zu bestimmen ist.
Die Effektivität kann durch den Prozentsatz der beim ersten Versuch erfolgreich abgeschlossenen Aufgaben bestimmt werden. Die Messung der Effizienz erfolgt zum einen über die erforderliche Zeit für den ersten Versuch (Effektivität im Verhältnis zum Aufwand), zum anderen über die Anzahl wiederkehrender Fehler. Die Zufriedenstellung wird durch die Anzahl freiwilliger Benutzungen operationalisiert.
Bezüglich der Grundsätze der Dialoggestaltung für interaktive Systeme leiten wir ab, dass eine "intuitive" Benutung von Walk-up-and-use-Interfaces möglich wird, wenn die Selbstbeschreibungsfähigkeit und die Erwartungskonformität nach ISO 9241-10/110 gewährleistet ist. Auf die Aufgabenangemessenheit wird nicht gesondert eingegangen, da sie für eine effektive Benutzung eine Conditio sine qua non darstellt.
Das Kriterium Erwartungskonformität(8) verlangt, dass die Erwartungen eines Users an die Informationsdarstellung und das Interface-Verhalten erfüllt werden. Das Kriterium wird dabei auf die Konzepte "Konsistenz" und "Vorhersagbarkeit" abgestützt (vgl. Herczeg 2009). Nicht erwartungskonforme bzw. inkonsistente Anwendungen behindern die Bildung eines geeigneten stabilen mentalen Modells von der Anwendung. Herczeg (2009) unterscheidet hier zwischen einer "inneren Konsistenz" (Konsistenz der Dialogsyntax innerhalb der Anwendung), einer "äußeren Konsistenz" (Konsistenz der Dialogsyntax über vergleichbare Anwendungen) und einer "metaphorischen Konsistenz" (Konsistenz der Dialoggestaltung mit der physikalischen Umwelt). Äußere Konsistenz und metaphorische Konsistenz entsprechen den "allgemein anerkannten Konventionen" nach ISO 9241-110. Sie werden im Allgemeinen durch Styleguides vorgegeben und sorgen über unterschiedliche Anwendungen hinweg für eine Einheitlichkeit. Das Einarbeitungsproblem kann durch bereits gelernte Nutzungskonventionen sicher überwunden werden.
Bei der erwartungskonformen Gestaltung von Walk-up-and-use-Interfaces gibt es die Möglichkeit, die Ergebnisse der Forschung zum impliziten Lernen, zum impliziten Gedächtnis und zum analogen Transfer gezielt anzuwenden, um bei der Erzeugung "intuitiver" Benutzbarkeit nicht nur auf Nutzungskonventionen angewiesen zu sein, die durch Styleguides mehr oder weniger zufällig eingeführt wurden.
Mit dem Kriterium Selbstbeschreibungsfähigkeit(9) wurde bislang nach ISO 9241-10 gefordert, dass das Interface durch Systemrückmeldungen unmittelbar verständlich ist bzw. ein interaktives Hilfesystem verfügbar ist. Die Zulässigkeit eines Hilfesystems sprach bislang dagegen, das Kriterium mit der "intuitiven" Benutzbarkeit in Verbindung zu bringen.
Die Revision des Kriteriums ohne expliziten Verweis auf ein Hilfesystem ändert die Sachlage (ISO 9241-110)(10). Nun steht das Kriterium in erstaunlicher Nähe zu den von Jürg Nievergelt formulierten "4 W's": "Wo bin ich?", "Was kann ich hier tun?", "Wie kam ich hierhin?" Und: "Wo kann ich hin und wie komme ich dorthin". Die Beantwortung dieser Fragen zum Ort, zum Modus und zum Interaktionsweg muss zu jeder Zeit vom Interface durch geeignete Rückmeldungen unterstützt werden, wenn Anfängern eine mühelose Interaktion gelingen soll.
Vor kurzem wurde von der ISO ein neuer Standard herausgegeben, der sich ausdrücklich auf die Einfachheit der Handhabung bezieht (ISO 20282). In dieser Norm wird die ISO 9241-11 gezielt auf Interfaces von Produkten des täglichen Gebrauchs angewendet, die bislang ausgeklammert oder nur implizit behandelt wurden. In Teil 1 der Norm wird der Gestaltungsprozess beschrieben, die Teile 2 bis 4 legen dezidierte Prüfverfahren für Walk-up-and-use-Produkte, Konsumgüter und deren Installation fest. Im Unterschied zur bislang üblichen Wahlfreiheit bei der Überprüfung der Usability wird die Planung, Durchführung und Auswertung von Usability-Tests in allen Einzelheiten definiert und primär auf die Effektivität ausgerichtet. In einer Übergangszeit ist die Überprüfungsprozedur als "Technische Spezifikation" formuliert, die keine verpflichtende Wirkung hat (vgl. DIN e.V. 2008b(11)).
Die neue Norm könnte zu einem grundlegenden Wandel im beruflichen Alltag vieler Usability-Experten führen. Es ist einerseits von Vorteil, wenn das, was in der ISO 9241-Serie in Bezug auf Walk-up-and-use-Interfaces zwischen den Zeilen steht, expliziert und damit verhandelbar wird. Andererseits sind starre Regeln für Experten selten von Vorteil. Experten, das lehren uns die Gebrüder Dreyfus, stellen sich nahezu automatisch auf den Nutzungskontext ein.
Das entscheidende Problem der "intuitiven" Benutzbarkeit wurde bereits 1994 von Jef Raskin geortet und als "Catch 22"-Situation markiert. Es besteht darin, dass nicht alle Interfaces "einfach" sein können und durch die Anwendung von Konventionen quasi-automatisch mit ihnen umgegangen werden kann. Es wird immer auch Interfaces geben müssen, die nach einer gewissen Einübung nicht nur eine effektive, sondern eine effiziente Benutzung erlauben. Nach der Überwindung des Einarbeitungsproblems, nach dem Ablauf von teilweise anstrengenden Lernprozessen, können damit - und nur damit - User-System-Interfaces zur Verfügung gestellt werden, mit denen "intuitiv" im Sinne der Dreyfus-Brüder gehandelt werden kann. Die Fixierung auf eine "intuitive" Benutzbarkeit ist eine ernste Gefahr für die Entwicklung innovativer Interfacekonzepte, die naturgemäß einer Einarbeitung bedürfen.
Einen Ansatz innovative Interfacekonzepte einzuführen, die von großen Teilen der Öffentlichkeit als "intuitiv" angesehen werden, hat die Firma Apple mehrfach demonstriert. So ist es beim "iPhone" durch massive Marketing-Anstrengungen gelungen, unkonventionellen Interaktionsformen in der öffentlichen Meinung das Merkmal "intuitiv" zuzuschreiben. Aza Raskin kommentiert diese Strategie ganz im Sinne seines Vaters Jef kritisch: "Intuitive Innovation Means Marketing" (Raskin 2009(12)).
Bullinger, H.-J.; Ziegler, J.; Bauer, W. (2002): Intuitive Human-Computer Interaction. In: International Journal of Human-Computer Interaction, Vol. 14, Nr. 1, S. 1-23.
DIN e.V. (2003). Software-Ergonomie. Berlin: Beuth.
DIN e.V. (2006). DIN EN ISO 9241-110. Ergonomie der Mensch-System-Interaktion. Teil 110: Grundsätze der Dialoggestaltung. Berlin: Beuth.
DIN e.V. (2008a). DIN ISO 20282-1. Einfachheit der Handhabung von Produkten des täglichen Gebrauchs - Teil 1: Gestaltungsanforderungen im Kontext von Anwendungs- und Benutzermerkmalen. Berlin: Beuth.
DIN e.V. (2008b). DIN ISO/TS 20282-2. Einfachheit der Handhabung von Produkten des täglichen Gebrauchs - Teil 2: Prüfverfahren für öffentlich zugängliche Produkte. Berlin: Beuth.
Dreyfus, H. L.; Dreyfus, S. E. (1986): Mind over Machine. New York: Free Press.
Dreyfus, S. E. (1981): Formal Models vs. Human Situational Understanding. Operations Research Center, ORC-81-3. University of California, Berkeley.
Dreyfus, S. E.; Dreyfus, H. L. (1980): A Five-Stage Model of the Mental Activities Involved in Directed Skill Acquisition. Operations Research Center, ORC-80-2. University of California, Berkeley.
Gigerenzer, G. (2007): Bauchentscheidungen. München: Verlag C. Bertelsmann.
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Hurtienne, J.; Mohs, C.; Meyer, H. A.; Kinds-müller, M. C; Israel, J. H. (2006): Intuitive Use of User Interfaces. i-com, Zeitschrift für inter-aktive und kooperative Medien, Band 5, Heft 3, 38-41.
Nievergelt, J. (1983). Die Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle. In: Kupka, I. (Hrsg.), 13. Jahrestagung der GI in Hamburg. Berlin: Gesellschaft für Informatik, S. 41-50.
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Streitz, N. A. (1988): Fragestellungen und Forschungsstrategien der Software-Ergonomie. In: Balzert, H.; Hoppe, H. U.; Oppermann, R.; Peschke, H.; Rohr, G.; Streitz. N. A. (Hrsg.): Einführung in die Software-Ergonomie. Berlin: Walter de Gruyter, S. 3-24.
(1) http://wortschatz.uni-leipzig.de/ (Letzter Zugriff: 29. Juni 2009)
(2) http://corpora.informatik.uni-leipzig.de/ (Letzter Zugriff: 29. Juni 2009)
(3) http://uie.com/articles/design_intuitive (Letzter Zugriff: 29. Juni 2009)
(4) Bei einer historischen Analyse lassen sich Hinweise dafür finden, dass die Vermarktung von Grafischen User-Interfaces (GUI) bei ihrer Einführung mit einem vermehrten Gebrauch des Wortes "intuitiv" einhergeht.
(5) Motiviert durch eine persönliche Mitteilung von Wolfgang Dzida sprechen wir von "User-System-Interfaces" und nicht von "User-Interfaces", um deutlich zu machen, dass das Interface als ein Januskopf betrachtet werden muss, bei dem es um das Zusammenwirken von User und System sowie von System und User geht.
(6) http://www.laboratories.telekom.com/ipws/English/InnovationDevelopment/Usability/Pages/default.aspx (Letzter Zugriff: 29. Juni 2009)
(7) Sie werden in der ISO 9241-11 im Anhang B (informativ) am Rande behandelt.
(8) "Ein Dialog ist erwartungskonform, wenn er den aus dem Nutzungskontext heraus vorhersehbaren Benutzerbelangen sowie allgemein anerkannten Konventionen entspricht." ISO 9241-110
(9) "Ein Dialog ist selbstbeschreibungsfähig, wenn jeder einzelne Dialogschritt durch Rückmeldung des Dialogsystems unmittelbar verständlich ist oder dem Benutzer auf Anfrage erklärt wird." ISO 9241-10
(10) "Ein Dialog ist in dem Maße selbstbeschreibungsfähig, in dem für den Benutzer zu jeder Zeit offensichtlich ist, in welchem Dialog, an welcher Stelle im Dialog sie sich befinden, welche Handlungen unternommen werden können und wie diese ausgeführt werden können." ISO 9241-110
(11) In einer Übergangszeit sind die Teile 2-4 als "Technische Spezifikation" formuliert, die keine verpflichtende Wirkung haben.
(12) http://vimeo.com/moogaloop.swf?clip_id=2497726 (Letzter Zugriff: 29. Juni 2009)
Als Mitglieder der IUUI Research Group danken wir den weiteren Mitgliedern für die vielen Treffen und anregenden Diskussionen: Caroline Clemens, Jörn Hurtienne, Steffi Husslein, Johann Habakuk Israel, Claus Knapheide, Anja Naumann, Carsten Mohs, Anna Pohlmeyer und Christian Stößel. Wir danken Wolfgang Dzida und Hartmut Wandke für ihre sehr hilfreichen Kommentare und Michael Herczeg für die gleichwohl kritischen wie fruchtbaren Diskussionen des Konzepts "intuitive use of user interfaces".