1. Gutenberg-Galaxis
"Die neuen Vorstellungen fanden ein Hauptmittel zu ihrer Verbreitung in der eben erfundenen Buchdruckerkunst, welche wie das Mittel des Schießpulvers dem modernen Charakter entspricht..." Hegels Diktum führt eine Epochendatierung ein, die nie allgemeingültig fixiert wurde. Sicher scheint nur zu sein, daß diese Epoche, habe sie nun mit den großen Entdeckungsreisen und imperialen Eroberungen in deren Gefolge oder mit der Entwicklung des Gutenbergschen Mediensystems Satz-Druck-Verlag begonnen, zu Ende geht. Das Ende der Neuzeit hat zumindest schon einen Arbeitstitel: Informationsgesellschaft.
Geht es um die große Perspektive, so wird der Informationsbegriff gerne hoch gehängt, so als bestünden Fernsehsendungen nur aus Vorlesungen der ENCYCLOPEDIA BRITANNICA und als fände man im Internet nur die Publikationsreihen des statistischen Bundesamtes. Es geht aber um Informationen jeglicher Art, jeglichen Wertes, jeglicher Güte, es geht also um Medien und die Informationsgesellschaft ist zuerst eine elektronische Mediengesellschaft , deren Geburt wir unter permanenter Überwachung durch die Printmedien erleben.
Mit Gutenbergs Technik von Satz, Druck und den Verlagen entstand eine industrielle Form des Wissens, in mancher Hinsicht Vorbild der industriellen Produktion überhaupt. Bücher machen Wissen einfach kopierbar. Erweiterte Reproduktion ist das rekursive Schema, das die Warenproduktion der Neuzeit kennzeichnete. Jede industrielle Ware entsteht als Kopie und dieser Produktionsprozeß wird in seiner Durchführung verfestigt und vertieft - produktive Basis der bürgerlichen Gesellschaft.
Der Buchdruck zeigte direkte Folgen. Durch die allgemeine Verfügbarkeit der Bibel und durch ihre volkssprachliche Übersetzung wurde die zentrale Macht ihrer Interpretation durch die papistische Kirche in Frage gestellt. Es entstanden Nationalsprachen und der Begriff der modernen Nation als sprachlich abgeschlossenem Gebiet.
In diesem Sinne definierte der Buchdruck die bürgerliche Gesellschaft. Das Gutenbergsche System leitete einen Kommunikations- und Informationswandel ein, aus dem letztlich der radikale kulturelle und gesellschaftliche Wandel zur europäischen Neuzeit folgte. Die Vorstellung des bürgerlichen Individuums entstand aus Ideen des Humanismus, der Renaissance, der Reformation, vermittelt durch die gedruckten Bücher. Gemeinsam mit der Konstruktion formte sich das moderne, universale wissenschaftliche Weltbild. Der Buchdruck transformierte die oralen Gemeinschaften in literale Gesellschaften mit Grammatiken und grapholektischen Hochsprachen, aus denen nationale Kultur und Literatur hervorgingen. Sprache, Literatur, Recht, Nation, Wissenschaft und Handel: Sie alle hängen vom Lesen, Schreiben und Rechnen ab.
Der symbolische Raum der Bleilettern hat eine geistige Welt geschaffen, in der Abstraktion, Verallgemeinerung, Öffentlichkeit und wissenschaftliche Erkenntnis zum Raum des Denkens und zum schriftlichen Diskurs wird. Allgemeiner Erkenntnis folgt allgemeine Pädagogik, mit der Bildung, sprich Lesen, Schreiben und Rechnen zu selbstverständlichen bürgerlichen Tugenden wird.
Die Gutenbergsche Erfindung war die erste mediale Revolution der Neuzeit, auf die optische und elektrische Telegrafie, Telefonie, Funk, Schallplatte, Radio, Fernsehen und Video folgten. Sie alle können als Erweiterungen des menschlichen Wahrnehmungsvermögens, als extensions of man im Sinne MARSHALL MCLUHANS interpretiert werden.
Technik und Weltbild sind ineinander medial verwoben, die Realität ist technisch konstruiert. Gutenberg-Galaxis ist der buchfixierte Ausdruck für die Neuzeit. Die Informationsgesellschaft scheint diese abzulösen: Warum sollten wir sie nicht Turing Galaxis nennen, nach dem intellektuellen Erfinder der universal paper machine, dem symbolisch-logischen Bauplan des Computers?
2. Die globale Kultur der Turingschen Galaxis
Personal Computer, ihre enormen magnetischen und optischen Speichermöglichkeiten, Satelliten, Kabel- und Glasfasernetze haben die Voraussetzung für neue Medien geschaffen, deren technischer Kern vom Computer bestimmt wird. Zum wesentlichen Kennzeichen des Rechnereinsatzes wird die umfassende Vernetzung, die vom lokalen Rechnernetz bis zu transnationalen Netzen reicht. Die im INTERNET integrierten Rechnernetze mit weltweit bald 50 Mio. Anschlüssen sind der richtungsweisende Entwurf einer neuen Qualität globaler Vernetzung.
Nach dem Briefnetz der Humanisten, dem Vertriebsnetz der Buchverlage, Zeitungen und Zeitschriften, dem Telegrafienetz und dem Telefonnetz entsteht hier eine Vernetzung, die alle vorherigen einschließt und eine enormes Potential neuer Möglichkeiten erschließt.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde diese mediale Universalität beispielhaft an der Entzifferung der Geheimkodes der faschistischen Wehrmacht und Marine durch Turings Dechiffrierrechner in Bletchley Park bewiesen. Auch die Berechnungen zur Wasserstoffbombe und zur Lenkung der Interkontinentalraketen waren nur mit Computern möglich, ebenso wie der Aufbau eines halb automatischen globalen Frühwarnsystems gegen russische Raketenangriffe. Diesem SAGE-SYSTEM entstammt das ARPANET, das Forschungskommunikationsnetz des Pentagons und in dessen Gefolge der weltweite Rechnernetzverbund des INTERNETS.
Noch ist das INTERNET nicht zu einer ausgereiften Form gelangt und es ist fraglich, ob es diese in den nächsten Jahrzehnten erreichen wird. Technischer Fortschritt, enormes Wachstum (vielleicht 200 000 Neuanschlüsse im Monat), aber auch allerlei Kommerzialisierungsversuche werden seine Struktur weiterhin verändern. Ein Beispiel für die Dynamik ist das rasch erweiterte World Wide Web, ein globaler Hypertext, der Visionen von Ted Nelsons Xanadu-Projekt aufgreift und umsetzt. Von jedem angeschlossenen Rechner aus werden Zugriffe auf Texte, Bilder, Töne oder Filme überall im Netz möglich. Die Gemeinschaft der elektronischen Briefe- und Notizenschreiber wird zu einer digitalen Mediengemeinschaft, möglich durch den enormen Einsatz öffentlich finanzierterter Ressourcen in der Matrix des Cyberspace, der literarisch in WILLIAM GIBSONS >NEUROMANCER< (1984) vorgedacht wurde.
Das Netz beruht nicht allein auf Kabeln und Drähten. Funksatelliten sind ein wesentliches Übertragungsmittel, das in der globalen Telefonie eine tragende Rolle spielt. Derzeit sind mehrere Satellitensysteme geplant, die direkten beidseitigen Empfang mit Endgeräten zulassen sollen. In Motorolas Iridium-Projekt sollen 66 Satelliten ab 1998 für weltweite Kommunikation per Handy und tragbarem Computer sorgen und Microsoft plant bis zum Jahr 2001 gar 840 Low Earth Orbiting Satellites (LEOS) in niedrige Umlaufbahnen zu schicken. In Zukunft muß das Netz nicht mehr am Draht hängen - so kann es allgegenwärtig werden.
Parallel zur Vernetzung der Computer vollzieht sich eine umfassende Digitalisierung der bereits eingeführten Medien, von der Produktion und der Übertragung bis zum Empfang. Die Vorteile digitaler Technik, ihre langfristige Archivierbarkeit, ihre einheitliche Speicherbarkeit, die elegante Verarbeitungsmöglichkeit mit Programmen und Rechnern oder die beliebig steigerbare Fehlertoleranz treiben diesen Prozeß voran. Die Möglichkeit der Umformbarkeit zwischen unterschiedlichen Medien bilden den Grundstock neuer Digitaler Medien, in denen Rechner und Programme weitgehend unsichtbare, technische Kerne bilden.
Der Computer hat den Wettbewerb mit dem Buch aufgenommen. Noch scheinen die Nachteile zu überwiegen: Das Buch ist tragbar, verbraucht keine Energie, speichert ein Megabit Buchstaben und Gigabits an Bildern und man kann es im Bett lesen. Doch der Computer hat als vernetztes Notebook bereits einige dieser Eigenschaften erworben und er kann sie zunehmend übertreffen. Vor allem aber bietet er Eigenschaften, die das Buch nie haben wird: Seine Programme finden und verbinden blitzschnell Textstellen, er mag zum Schreiben wie zum Lesen dienen, er kann Sprache, Klänge, Animationen und Film speichern und wiedergeben und entlang programmierter Vorgaben verändern. Die Vernetzung über Funk ist der erste Schritt in eine Welt des Ubiquitous Computing. Die schrittweise Ablösung der Tastatur, durch Maus, Griffel oder Spracheingabe wird der digital-medialen Gesellschaft helfen, die Eierschalen ihrer literalen Geburt abzustreifen.
Mit Vernetzung und Medienintegration wird die eigentliche Potenz der TURINGSCHEN GALAXIS, die durch Verschmelzung von Informatik, Informationstechnik und Medientechnik entsteht, sichtbar. Sie wird ähnlich wie der Buchdruck über eine längere Periode die Wahrnehmung verändern - von literalen Gesellschaften zu einer globalen medialen Gesellschaft. Arbeit und Kultur, Politik, Recht, Wirtschaft, Wissensschaft und nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche werden sich diesem Prozeß nicht entziehen.
3. Vernetzte Unsicherheit
Technische Umwälzungen dieser Dimension bringen Unsicherheiten mit sich. Dies beginnt mit der Frage nach ihrer Stabilität: Zuverlässige Nutzung ist Voraussetzung, um Kauf- und Verkauf, Postdienste oder Finanzdienste dem Netz anzuvertrauen und rechtlich verbindliche Regelungen zu etablieren. Diese Zuverlässigkeit ist nicht selbstverständlich, sie bedarf weiterhin großer technischer Anstrengungen für Leitungen, Speicher, Endknoten, aber auch für einfache, zweckmässig und zuverlässig bedienbare Nutzungsschnittstellen. Schon die schlichte Frage nach der Haltbarkeit digital gespeicherter Information ist nicht einfach zu beantworten. JEFF ROTHENBERG beschrieb den aktuellen Zustand im Scientific American im Januar 95 folgendermaßen: "Digital Information lasts forever or five years - whatever comes first."
Technische Zuverlässigkeit ist die Basis für sichere Transaktionen. Diese Sicherheit verlangt den bestimmungsmäßen Umgang mit den übertragenen und gespeicherten Daten. Es soll korrekt übertragen und gespeichert werden, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Transaktionen sollen gegen den Zugriff Dritter geschützt sein. Dazu sind komplizierte Protokolle über alle technischen Ebenen vom Leitungsanschluß bis zur eindeutigen, rechtsverbindlichen "digitalen Unterschrift" nötig.
Zur zuverlässigen und sicheren Nutzung gehört auch der freie Zugang zu den neuen Medien und Netzen. Dies schließt rechtliche wie bezahlbare Zugangsmöglichkeiten ein. Hier sind bislang eher politische Absichtserklärungen denn reale Möglichkeiten vorhanden.
Neben ihrer zweckbestimmten Nutzung läßt die rechnergestützte Datenverarbeitung ohne großen Aufwand auch viele nicht intendierte Nutzungen zu. Der Phantasie des Mißbrauchs sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Die Invertierung des Telefonbuchs, also die Sortierung eines Telefonbuches nach Nummern, Berufsangaben oder nach Adressen mag als Beispiel einer solchen nicht intendierten Nutzung dienen, die durch den Einsatz von Rechnerprogrammen äußerst einfach möglich wird. Dies ist nützlich für die Direktwerbung, doch ob und wie weit der davon betroffene TELEKOM-Kunde diese Nutzung des Telefonbuches wünscht, ist zumindest unklar.
Die Koordinierung von Kaufdaten und Kontobewegungen für ein Bewegungsprofil ist ein viel bedenklicheres Beispiel dieser neuen Möglichkeiten. Da mehr und mehr Daten über die Netze laufen und immer mehr dieser Daten sensible Informationen bedeuten, stellen sich datenschutz- oder besser personenschutzrechtliche Fragen völlig neu. In manchen Ländern, wie der Bundesrepublik Deutschland sind solche Entwicklungen durch die Verfassung und Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes kanalisiert, wenngleich neue Technologien eine stete Fortschreibung dieser Entwicklungen erfordern. Problematisch wird der transnationale Netzverkehr, da hier wesentliche schwächere Regelungen vorliegen und in unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen politisch und rechtlich unterschiedliche, ja widersprüchliche, Beurteilungen dieser Sachverhalte und Entwicklungen erfolgen. Dies gilt schon für die demokratischen Länder Europas.
Tiefer als die in den letzten Jahren intensiv geführte Datenschutzdiskussion greift die Umgestaltung der nationalen "Wissensordnungen", um einen Ausdruck des Karlsruher Philosophen Helmut Spinner aufzugreifen. Die WISSENSORDNUNG regelt neben der Rechtsordnung und der Wirtschaftsordnung den Umgang mit, den Zugang und Einsatz und Verwertung von Informationen. Der Schutz geistigen Eigentums durch Patentrecht oder Urheberrecht ist ein Teil der Wissensordnung ebenso wie das Presserecht oder die Zensur. Freiheit der Forschung und Lehre ist Teil unserer Wissensordnung ebenso wie die Sicherung des allgemeinen Zugangs zu öffentlich verbreitetem, gedruckten oder medial verbreitetem Materials durch öffentliche Bibliotheken. Durch die digitale Umformung aller Medien und ihre Vernetzung wird die gewachsene nationale Wissensordnung radikal in Frage gestellt.
Mit der Globalisierung werden die national unterschiedlichen Auffassungen zur Wissensordnung in eine transnationale Konkurrenz und Konvergenz gezwungen, die derzeit überwiegend durch die Interessen und Entscheidungen der Medienkonzerne geformt wird.
4. Globale Spieler
Mit Blick auf die gewaltigen ökonomischen Eruptionen und Verschiebungen, die mit der Verschmelzung von Informatik, Nachrichtentechnik und Medienindustrie sichtbar werden, stellen sich radikal neue Fragen transnationaler rechtlicher oder politischer Beherrschung. Mehr noch: Die entstehenden Medien- und Computernetze greifen radikal in die entstandenen regionalen Kulturen ein, von der politischen und der Arbeitskultur bis in alltägliche Wahrnehmungs- und Umgangsformen. Im politischen Raum wird rechts wie links der befürchtete Verlust der Kontrolle spürbar. Das globale Netz entzieht sich der wie immer gearteten Balance der Kräfte, neben die Unüberschaubarkeit tritt die reale Angst, nichts mehr regeln zu können.
Als überlebensfähige Akteure in diesem globalen Feld zeigen sich weniger die Staaten oder Staatengemeinschaften als die multinationalen Konzerne. Multis haben nur geringe regionale oder nationale Loyalitäten und Bindungen. Konzerne sind keinem Staatsvolk verpflichtet und sie verfügen über die enormen notwendigen Kapitalien, für die zudem weltweit lukrative Anlagen gesucht werden. In zeitlicher Perspektive lösen die multinationalen Corporates die Nationalstaaten im globalen Verbund ab, so wie die Nationalstaaten einst den großräumig operierenden Identitäten der großen Religions- und Glaubensgemeinschaften entgegenstanden.
Dies ist keinesfalls eine widerspruchsfreie Perspektive und so erleben wir gleichzeitig die blutigsten Versuche, nationale Identität in den kleinsten Regionen zu stiften wie die den radikalen Abbau von nationaler Identität durch Wegfall von Grenzen und die Einführung gemeinsamer Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in der europäischen Gemeinschaft - symbolisiert durch gemeinsame Pässe und eine gemeinsame Währung. Und selbst innerhalb Europas nehmen wir nicht nur am Versuch teil, eine supranationale Gemeinschaft in Westeuropa aufzubauen, wir haben gerade auch das Ende eines Experimentes, den Zerfall der viel engeren Staatengemeinschaft der UdSSR erlebt. Der Begriff der Nation steht zur Disposition.
Mit dieser Entwicklung verbunden stehen die Machtmittel des Nationalstaates zur Disposition, nämlich souveräne Politik, Militär und Geld. Innerhalb der EU wird auf solche exklusiven Mittel vertraglich verzichtet. In anderen Teilen der Welt wird dies in eher herkömmlicher Weise durch WELTBANK und UNO-Truppen erzwungen. Doch jenseits dieser imperialen Gesten und Handlungen erweisen sich die internationalen Finanzbewegungen bereits als signifikantes neues Beispiel für eine kaum noch steuerbare transnationale Entwicklung. Globale weltweite Spekulation ist erst durch Computer und internationale Netze möglich geworden. Ihre Kontrolle entgleitet sichtbar den Nationalbanken. Doch dahinter zeigen sich tieferliegende Strukturprobleme. Geld im herkömmlichen Sinne ist ja seit einiger Zeit nicht mehr an edle Metalle, sondern an die politische Haftung durch Nationalstaaten gebunden. Dies soll eine vertrauensbildende Haltung erzeugen, die regelmäßig durch Inflationsraten und Wechselkursschwankungen und gelegentlich durch Staatsbankrotte enttäuscht wird.
Im globalen Finanzmarkt erscheinen diese nationalen Bindungen des Geldes auflösbar. Längst sind die Banken und Finanzmärkte intern und zwischen den Organisationen global vernetzt. Nun beginnt die Phase der offen zugänglichen globalen Vernetzungen zwischen Anbietern und Kunden - mit allen Sicherheitsproblemen, mit der Auflösung der nationalen operativen Grenzen und des entwickelten Rechtsschutzes, mit den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Widersprüchen des globalen Aktionsbereiches.
Gelder könnten genauso an andere wirtschaftlich mächtige Organisationen wie die multinational operierenden Konzerne oder Banken gebunden sein. Wenn die Informationsgesellschaft auf elektronischer Kommunikation beruht, warum sollten dann Telefonkarten nicht als universale Währung eingeführt werden - jenseits der nationalen Münzrechte, des Dollars oder des Euros? Schließlich ist die Lebenserwartung von SHELL, AT&T oder SONY nicht geringer als die der meisten institutionellen Mitglieder der UN-Vollversammlung - während die wirtschaftlichen Perspektiven der Multis eher stabiler sind.
Was eine solche Verlagerung des Finanzsystems bedeuten könnte, mag man bereits an der Frage der Besteuerung einer solchen nicht-nationalen Währung ermessen. Sie wäre derzeit nicht geregelt und auch nicht eintreibbar. Eine nationale politische Kontrolle finanziell unabhängig operierender Konzerne ist nur schwer vorstellbar. Wer hat dann in einer solchen globalen Struktur Macht, den Ausnahmezustand zu verkünden? Was ist das staatliche Gewaltmonopol gegen die Gewalt der Monopole?
GREENPEACE könnte sich als wirksamere Kontrollinstanz erweisen als die britische, deutsche oder französische Regierung.
Konflikte im globalen Netz sind unvermeidlich, letztlich Abbild der ungeregelten Widersprüche zwischen den Beteiligten. Welche Rechtsordnungen werden im Netz gelten? Welche sind durchsetzbar?
Nach dem Ende des Kalten Krieges sind die Plätze für die Hauptfeinde der Politik und der Medien geräumt. Neue Mitspieler sind gefunden. Terrorismus, Fundamentalismus und Kinderpornografie - alle natürlich im Netz vertreten und deshalb hervorragend als Experimentierfeld für die Kompensation von "Kontrollverlust-Ängsten" geeignet, die jeden Rechtspolitiker angesichts der Globalisierung befällt.
Doch, obwohl kaum ein Problem beim Aufspüren der Feinde besteht, ergeben sich Schwierigkeiten bei der gerechten Bestrafung. Natürlich liegt es nahe, die Verursacher zu bestrafen, doch dann gilt wohl ein Standortprinzip. Für amerikanisch erzeugte Pornografie, Bombenbastelanleitungen oder Nazipropaganda gilt also amerikanisches Recht - und dies zeigt eine liberalere Haltung gegenüber der Zensur als in anderen Ländern. Verfolger, die damit leer ausgehen, versuchen deshalb die Konsumenten oder die Übermittler bestrafen. Doch deren Schuld wäre erst einmal nachzuweisen.
Wird das Netz, technisch ja nicht ganz abwegig, als Erweiterung des Telefonnetzes interpretiert, so wäre entsprechend "abzuhören". Selbst wenn das Netz als "Fernsehen" interpretiert wird, wäre der Bezug zu zensierender Informationen zu belegen - oder der Empfang ausländischer Sendungen einzuschränken. Bleibt die Haftung der Übermittler, der Provider. Doch dies verlangt eine Zensur, die dem Umfang des Netzverkehrs praktisch nicht gewachsen ist. Zudem ist bei Digitalen Medien ohne wesentlichen Aufwand eine praktisch perfekte Verschlüsselung möglich. Diese kann zwar verboten oder beschränkt werden (und dies wird rund um die Erde versucht), doch dies ist in umfassender Weise weder kontrollierbar noch durchsetzbar.
Hinzu kommt: Eine nationale Kontrolle des Netzes könnte das Entstehen einer Informationsgesellschaft ernsthaft behindern, so daß dem geschützten Gut, das ja auch überall als große Chance apostrophiert wird, durch seinen Schutz möglicherweise irreparabler Schaden zugefügt wird.
5. Ausblick
Fünf Jahrhunderte hat das Projekt Gutenberg gebraucht, um die modernen Industriegesellschaften zu erzeugen - nach einem Vorlauf von drei Jahrhunderten. Der Buchdruck hat aus oralen Gemeinschaften literale Gesellschaften mit grapholektischen Hochsprachen geformt und daraus folgend entstanden die Nationalstaaten, die Renaissance und die religiösen Reformationen ebenso wie das universelle wissenschaftliche und politische Weltbild. Von der Erfindung des Textes im 12. Jahrhundert und der Erfindung des Buchdrucksystems im 15. Jahrhundert bis zur allgemeinen Schulpflicht sind Jahrhunderte vergangen. Die kommende globale mediale Gesellschaft wird Prozesse in Gang setzen, deren Wirkungen mit denen der Literarisierung zum Beginn der Neuzeit vergleichbar sind.
Es ist offensichtlich, daß diese Entwicklungen Politik, Wirtschaft und Medien betreffen, aber auch vielfach überfordern. Netze verändern die Möglichkeiten und Perspektiven des Verkehrs, der Produktion, der Distribution und der Medien. Diese entstehende TURINGSCHE GALAXIS wird in den nächsten Jahrzehnte durch einen zunehmend schneller und heftiger verlaufenden Widerspruch zwischen Kontinuität und Bruch geprägt werden.
Sie mündet wohl in einer politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Globalisierung, die die größte Entdeckung der Kolumbuszeit endgültig festigt:"Die Erdoberfläche ist unbeschränkt, aber endlich".
Wir werden uns arrangieren müssen.
Der Autor:
Prof. Dr. Wolfgang Coy
Humboldt Universität zu Berlin
Institut für Informatik
Unter den Linden 6
D-10099 BERLIN
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[aus M/T/G Hrsg.: Projektverbund "Theorie und Geschichte der Medien"]