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  Herbert A. Meyer

Meyer, H.A. (1997). Handicap Hypertext? Vortrag während des Workshops "Kognition und WWW" (CAW '97), Universität Freiburg.

  • Abstract

    Innerhalb des Wissensorganisationsansatzes wird postuliert, daß hypertextartig gestaltete Informationssysteme die Freiheitsgrade während Rezeption und Produktion produktiv erweitern. Im Kontrast zu diesem Ansatz steht die Annahme vom "Verlorengehen" und "Verzetteln". Hier wird Hypertext als Handicap beschrieben, das über Optimierung technischer Hilfsmittel ausgeglichen werden sollte. Der vorliegende Beitrag greift den Handicap-Gedanken auf, stellt ihn jedoch nicht als als eine pragmatische Herausforderung, sondern als ein theoretisches Dilemma dar, dessen Lösung vorerst offen bleibt.

    Ausgegangen wird von der Annahme, daß eine Betrachtung des Umgangs mit Hypertext bruchstückhaft bleibt, wenn nicht das softwaretechnische Funktionsinventar der Hypertextsysteme reflektiert wird, da diese Funktionen die Produktions- und Rezeptionsvorgänge, wenn nicht einschränken, so doch präformieren. Zur Analyse der Hypertexttechnologie wird eine perspektivische Skizze der technikgeschichtlichen Entwicklung von Hypertextsystemen herausgearbeitet, aus der sich theoretisch bedeutsame Beobachtungen ableiten lassen. So läßt sich zeigen, daß Vannevar Bush, der Anfang der 30er Jahre im Rahmen eines MIT-Forschungsprojektes zur Etablierung eines integrierten Bibliotheksarbeitsplatzes das Programm Hypertext erstmalig formulierte, offensichtlich auf das mechanistische Assoziationsprinzip rekurrierte. Sein Konzept lief darauf hinaus, einen externen Speicher in Analogie zu menschlichen Denkvorgängen mit "assoziativen" Verarbeitungsfunktionen auszustatten, um die "künstlichen" bibiliothekarischen Indices durch eine "natürliche" Ordnung zu ersetzen. Die technische Implementierung der "Selektion durch Assoziation" blieb Utopie, der Entwurf des programmatisch memory extender (Memex) genannten fiktiven Geräts hatte jedoch leitmotivischen Einfluß auf später tatsächlich konstruierte Hypertextmaschinen.

    In Bushs Technikutopie manifestiert sich der assoziationspsychologische, mechanistische Grundgedanke, daß das Denken aus einer variablen Verknüpfung gegebener Elemente besteht, die auch losgelöst voneinander betrachtet werden können. Spätestens die gestaltpsychologischen Untersuchungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts weisen allerdings nach, daß sich einzelne Elemente im menschlichen Wahrnehmen und Denken nicht ohne kontextuellen Bezug konstituieren. Die Hypertextforschung muß demnach mit der Hypothek leben, daß die von Bush inspirierte Hypertexttechnologie von einer - allgemeinpsychologisch betrachtet - unangemessenenen elementaristischen Grundannahme ausgeht. Die schwerwiegende Folgewirkung dieser Ausgangsbasis liegt auf der Hand: Es ist das Problem, "Wissensbausteine" herzustellen, die möglichst ohne Kontext verständlich sind. So ergibt sich das für Hypertextsysteme charakteristische Dilemma, das als wechselseitige Abhängigkeit der technischen Funktion (Vernetzung elektronischer Dokumente) und des organisatorischen Prinzips (Isolierung elektronischer Dokumente) beschrieben werden kann.

    Anwenden lassen sich diese Überlegungen beispielsweise auf die häufig zitierte Navigationsproblematik. Der traditionelle lineare Text verliert seine Form innerhalb eines Hypertextsystems, d.h. das über Jahrhunderte kodifizierte "Skript" zur Form von Büchern, Artikeln, Zeitungen, Zeitschriften, kann nicht auf die Erzeugung elektronischer Hypertextdokumente übertragen werden. Kohärenz im althergebrachten Sinne, so die These, wird innerhalb von Hypertextsystemen nicht gewährleistet. Daraus folgt, daß sich Lesestrategien, die sich bei der Rezeption traditioneller Texte herausgebildet und bewährt haben, als inkompatibel bei der Rezeption von Hypertextdokumenten erweisen. Schwerwiegender scheint jedoch das Fehlen einer Rhetorik für die Gestaltung dieser neuen Dokumentenklasse. Dies sorgt dafür, daß Hypertextautoren auf vertraute Konventionen zurückgreifen. Daher ist auch nicht verwunderlich, daß viele bislang produzierte Hypertexte aussehen wie elektronische Inkunabeln.

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